Silcher:
Artikel „Silcher, Friedrich“ von Weber. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 319–324
Friedrich S., der berufenste Führer einer den deutschen Volksgesang, vor allem das deutsche Volkslied zu epochemachender Bedeutung fördernden Bewegung in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, ist geboren am 27. Juni 1789 in dem württembergischen Städtchen Schnaith bei Schorndorf im Remsthal. Sein Vater, Schullehrer daselbst, starb, als der Knabe 5 Jahre alt war. Sein Nachfolger im Amt, Weegmann, heirathete die Wittwe, nahm sich der Erziehung des aufgeweckten Jungen in väterlicher Weise an und pflegte insbesondere die frühzeitig zu Tage tretende musikalische Begabung desselben, ein Bestreben, worin er durch den befreundeten Pfarrvicar aus dem benachbarten Geradstetten, Namens Beringer, erfolgreich unterstützt wurde. Der Knabe wurde zum Lehrerberufe bestimmt und kam infolgedessen nach seiner Confirmation 1803 als Schulincipient („Schulknecht“) zu Schullehrer Nic. Ferd. Auberlen in Fellbach bei Stuttgart, einem theoretisch und praktisch sehr tüchtigen Musiker und namentlich trefflichen Organisten (Mitarbeiter am Choralbuch von 1799 neben Knecht und Christmann). Zu diesem in seinem Berufe ausgezeichneten biederen Manne fühlte sich der junge Mann auf’s lebhafteste hingezogen und bewahrte ihm auch später jederzeit das freundlichste und dankbarste Gedächtniß. Er studirte bei ihm mit größtem Eifer und schönem Erfolge Theorie (nach dem damals üblichen Vogler’schen System) und betheiligte sich in hervorragender Weise an den musikalischen Aufführungen, welche sein Lehrer gewöhnlich Sonntags veranstaltete und wobei S. bald den Generalbaß zu spielen gelernt hatte. Neben der Musik betrieb er aber auch als besondere Lieblingsbeschäftigung das Zeichnen und Malen; Lehrer Friesinger in Waiblingen unterstützte ihn darin anregend und fördernd, zu Studien nach der Natur bot ihm die liebliche Gegend des Remsthales anziehendsten Stoff. Im Jahr 1806 wurde S. Lehrergehilfe in Schorndorf und erhielt daneben die Stelle eines Hauslehrers bei dem dortigen Landvogt, Freiherrn von Berlichingen. Sein liebenswürdiges, bescheidenes und gefälliges Wesen verschaffte ihm bald Zutritt auch zu der Familie seiner Zöglinge, was ihm eine mannigfache Quelle der Anregung war, zumal er auch seine zeichnerischen und malerischen Studien unter der Anleitung der dieser Familie befreundeten Malerin Simanowitz in Ludwigsburg weiter verfolgen konnte. Sein Gönner war nämlich 1809 nach letzterer Stadt übergesiedelt und hatte S. beredet, mit ihm zu ziehen, zu welchem Zweck er dessen Versetzung dahin leicht bewirken konnte. In dieser Stadt nun, der zeitweiligen Residenz des württembergischen Hofes, bot sich S. bald ein ihm sehr zusagender Wirkungskreis. Zwar mußte er von dem Gedanken, als Privatlehrer zu wirken, wozu ihm seine gewinnende Persönlichkeit bald nach vielen Seiten in erfolgreichster Weise Bahn brach, abstehn, um der Aushebung zum Militär zu entgehen; er verblieb daher in der Stelle eines [320] Lehrers an der Mädchenschule. Seit 1807 lebte in Ludwigsburg Karl M. v. Weber, den S. überaus verehrte und in dessen Nähe zu weilen ihm ein besonderes Glück war; doch dürfte der Abstand zwischen dem gefeierten Meister und Hofmann und dem bescheidenen ehemaligen Dorfschulmeister doch ein zu großer gewesen sein, als daß sich ein persönlicher Verkehr hätte entwickeln können. Desto anregender war für S. der Verkehr mit dem gleichfalls daselbst lebenden Conradin Kreutzer. Hier veröffentlichte S. nun auch sein erstes Werk, Variationen für Clavier über „Gib mir die Blumen" (G-dur) und zwar lithographirte er es selbst, ebenso wie dreistimmige Choräle, die später im Druck erschienen. Den für ihn besonders auch für die Folge wichtigsten Umgang genoß aber S. im Hause des sehr musikalischen Oberhelfers Bahnmaier (s. A. D. B. I, 766). Hier war es eine in herzerfreulicher Blüthe stehende echte und rechte Hausmusik, die ihn anzog und in der er sich selbst die mannigfachsten Verdienste als Spieler, Begleiter, Sänger, Componist, Dirigent, Arrangeur und allzeit gefälliger Berather zu erwerben wußte. Es waren ja in der Stadt eigentlich spießbürgerliche und philisterhafte musikalische Verhältnisse, aber die Art und Weise, wie man hier Hausmusik trieb, sagte seinem bescheidenen und harmlosen Wesen unendlich zu, zumal jener, was ihr an Größe und fachgemäßer Bedeutung mangelte, durch eine wahrhaft mächtige, weil reine und tiefe Wirkung mehr als ersetzt war.
Indessen zog es S. nach und nach doch zu größeren Verhältnissen, und er verlegte 1815 den Sitz seiner Wirksamkeit nach der nahen Residenz Stuttgart. Auch hier hatte er das Glück, durch seine liebenswürdigen Eigenschaften aufs beste empfohlen, bald Zutritt zu den angesehensten Familien als Lehrer und willkommener Gast zu finden; u. A. war Julius Benedict († 1885 in London) sein Schüler. Mit der Familie des letzteren durfte er während des Sommers reisen, wobei er auch einmal nach Yverdun zu Pestalozzi kam, ein Ereigniß, das ihm besondere Freude bereitete. Für seine musikalische Weiterbildung, die er sich sehr angelegen sein ließ, war neben Kreutzer auch die Bekanntschaft Hummel’s, der hier lebte, von Einfluß. In diese Zeit fällt die Bearbeitung dreistimmig gesetzter Choräle (s. u.) sowie viele Gelegenheitscompositionen. Mittlerweile war Silcher’s Gönner Bahnmaier als Professor der Theologie an die Universität Tübingen berufen worden. Stets der Verbreitung musikalischer Bestrebungen gewogen, lenkte er hier die Aufmerksamkeit maßgebender Behörden auf die Nothwendigkeit, den protestantischen Theologen Gelegenheit zum Studium des Kirchenliedes und Kirchengesangs zu bieten. Die Frucht seiner Bemühungen war die Errichtung einer eigenen Lehrstelle für Musik an der Universität, und für diese wurde ebenfalls auf Bahnmaier’s Empfehlung im October 1817 unser S. als „Universitätsmusikdirector“ berufen. Damit kam nun der bescheidene, fast schüchterne Mann auf einmal in Verhältnisse, die ihm anfangs sehr wenig zusagten, obwohl er bei seinem ersten Kommen mit echt schwäbischer Herzlichkeit empfangen wurde. Die officiellen Aufgaben, die an ihn herantraten, schienen ihm nicht im Verhältniß zu seinem bescheidenen Bildungsgang zu stehen. Der Ton, der in den Studentenkreisen herrschte, die er zu unterweisen hatte, war ihm unbehaglich: kurz, es bedurfte eines förmlichen Gewaltstreichs seines Bruders, ihn nach Tübingen zu bringen (derselbe ließ einfach einen Wagen vorfahren und Silcher’s Habseligkeiten darauf packen und nach T. spediren!). Der erste officielle Anlaß zum Auftreten des neuernannten Musikdirectors war die Jubelfeier der Reformation, zu welcher S. eine Cantate schrieb und aufführte. Tübingen blieb nun bis zu des Meisters Tod der Ort seiner Wirksamkeit. Sein äußeres Leben bietet von nun ab wenig bemerkenswerthe Daten mehr. Es floß in ruhiger, stiller aber fleißiger Thätigkeit dahin, reich an Erfolgen, noch reicher an Gehalt nicht nur für seine Zeit, sondern für unabsehbare Zeiten. Das Geheimniß seiner Erfolge [321] liegt einmal darin, daß er für die richtige Erfüllung seiner Mission in seltenster Weise durch die Art und Weise seines eigenen Bildungsganges vereigenschaftet war, und zum andern darin, daß er anfangs mit richtigem Instinct, dann aber auch mit kluger Berechnung überall das richtige Verhältniß zwischen dem, was er erreichen wollte und seinen eigenen und durch die Umgebung ihm zur Verfügung gestellten Mitteln zu wahren wußte. Seine ausgedehnte Wirksamkeit bedarf einer eingehenden Würdigung nach den verschiedenen Seiten seiner Thätigkeit.
Es war für Silcher’s Wirken von vornherein von charakteristischer Bedeutung, daß er selbst wie auch seine Thätigkeit in Kreisen aufwuchs, deren musikalische Bedürfnisse mehr durch Neigung als durch fachlichen Beruf bedingt sind: Die Schule, speciell die Volksschule und die (im guten Sinn!) dilettantischen Bestrebungen weiterer Liebhaberkreise. Es kommt hier weniger auf große Ziele an als vielmehr auf thunlichste Ausnützung der vorhandenen, an sich ja beschränkten, wenigstens sehr ungleichen Mittel. Im Verfolg solcher Zwecke eignete sich S. den außerordentlichen praktischen Geist an, den glücklichen Griff mitten hinein ins reelle volle Menschenleben, welcher ihn überall vor falschem Idealismus, vor zu hoch gesteckten Aufgaben, vor naturgemäßer Enttäuschung bewahrte. Gerade daraus erhält seine Laufbahn den wohlthuend ruhigen, von äußeren und zumeist wohl auch heftigeren inneren Kämpfen freien Charakter. Das Musiciren, schlecht und recht, wie es einem wackeren kunstbegabten Schulmeister ziemt, das ist der Anfang von Silcher’s musikalischer Thätigkeit. Seine ersten Erfolge findet er in der Hausmusik, wie sie bei seinen Freunden und Gönnern mit ehrlicher Hingabe im Schwunge war. Sein gefälliges Wesen, das Jeden zur Geltung kommen lassen, Jedem zu Diensten sein will, läßt ihn arrangiren, transscribiren, für häusliche Zwecke componiren u. A. m. Nun sah er sich plötzlich durch seine Berufung als Universitätsmusikdirector in Tübingen auf einen Posten gestellt, wo höhere, auch repräsentative Pflichten an ihn herantraten. Die dadurch bedingte Befangenheit konnte er nur überwinden, indem er sich möglichst praktisch mit seinen Aufgaben beschäftigte. Dies wurde ihm leicht dadurch, daß er ein durch seine Erziehung wie seinen Umgang ausgeprägtes sichres Gefühl für die Bedürfnisse seiner Umgebung hatte. Selbst hervorgegangen aus dem Volke, wußte und fühlte er das Gemeinsame, aus dem alle künstlerischen Regungen entsprangen: den unverfälschten Sinn für das Schlichte, Einfache, Innige, Sinnige, aus den Tiefen des reinen Gefühls Hervorquellende, mit einem Wort: das wahrhaft Volksthümliche. Und sobald er in seiner Stellung sich eines nachhaltigen Einflusses auf diese Art der Kunstpflege, die einzige, mit der er auf breitere Schichten veredelnd wirken konnte, sicher fühlte, so legte er auch Hand an’s Werk. Ihm gebührt das Verdienst, den hohen Werth und die Bedeutung des Volkslieds nicht nur zuerst richtig erkannt, sondern auch die Mittel gefunden zu haben, diesen unvergleichlichen Schatz seinem Volke zugänglich gemacht, den Sinn und die Liebe dafür geweckt, gefördert und nachhaltig gefesselt zu haben. Er schöpfte aus dem Volke und schrieb für’s Volk. Dies ist Anfangs- und Endpunkt seiner hervorragendsten und auch für die Nachwelt bedeutungsvollsten That. Kein Wunder, daß ihm, dem feinsinnigen Musiker im Umgang mit dem Besten und Aechtesten, was das Volk besaß, von selbst auch die Ausdrucksweise des Volksthümlichen so geläufig wurde, daß er berufen sein konnte, Volkslieder im schönsten Sinn selbst zu schreiben, ja daß er den Volksliederschatz gerade mit denjenigen Perlen bereichern konnte, welche heute in aller Mund sind und wohl für Generationen bleiben werden. Nicht alte vergilbte Manuscripte, sondern das frisch quellende ursprüngliche Volksleben war seine [322] Quelle: er erlauschte die Lieder und schrieb sie nieder, reinigte sie von wilden Schößlingen und fremden Zuthaten und kleidete sie in ein Gewand, in dem sie besonders zu damaliger Zeit den größten Anhang finden konnten. War doch der deutsche Männergesang damals in seiner ersten frischen Blüthe. Im Jahr 1825 erschien sein erstes Heft „Deutsche Volkslieder“ für vier Männerstimmen gesetzt (Tübingen, Laupp), 1833 das fünfte; bis zu seinem Tode waren zwölf Hefte mit je zwölf Liedern erschienen, zum Theil in mehrfachen Auflagen. Der durchschlagende Erfolg dieser Lieder veranlaßte den Autor, eine Auswahl derselben nebst andern auch für eine oder zwei Singstimmen mit Begleitung des Pianoforte oder der Guitarre, herauszugeben (vier Hefte, davon das erste 1834, Tübingen, Laupp). Der Erfolg der deutschen Volkslieder lenkte Silcher’s Blick aber auch auf den Liederschatz fremder Völker; das Resultat seines Forschens, in dem er durch manchen Freund der Sache, der durch ihn angeregt war, unterstützt wurde, war die Herausgabe von „ausländischen Volksmelodien mit deutschem zum Theil aus dem Englischen etc. übertragenen Texte für eine oder zwei Singstimmen mit Begleitung des Pianoforte und der Guitarre gesetzt“ (I op. 23; II op. 27; III op. 30; IV op. 35). Von diesen ist das populärste die irische Melodie „Stumm schläft der Sänger“ geworden. Auch hier leitete ihn weniger die Sucht nach dem Originellen, Befremdlichen, sondern vielmehr die Hervorkehrung des unserem deutschen Gefühl vonehmlich zusagenden, uns sozusagen Congenialen, er hört auf den Herzschlag und sieht nicht auf das charakteristische Kleid; damit führt er die Fremdlinge am leichtesten ein und sichert ihnen die gründlichste Angewöhnung. Da S. die Erzeugnisse seiner eigenen Erfindung lange Zeit ohne Nennung seines Namens unter die gefundenen Melodien aufnahm, blieb man lange Zeit über seine Autorschaft im Unklaren, bis Mißbräuche, die mit diesem Umstand zu Tage traten, ihn veranlaßten, dieselbe ausdrücklicher zu wahren. Seine bekanntesten eigenen Weisen sind: „Aennchen von Tharau“, „Es zogen drei Burschen" (2. Theil der ursprünglichen volksmäßigen Melodie), „Ach, ach, ich armes Klosterfräulein“, „Morgen muß ich weg von hier“, „E bissele Lieb und e bissele Treu“, „Es geht bei gedämpfter Trommel Klang", „Drauß’ ist Alles so prächtig". Ferner wurde zum vielleicht populärsten deutschen Volkslied jene „wundersame gewaltige Melodie“ der „Loreley“, welche ursprünglich in einer Sammlung von Liedern für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte erschien.
Was sonst S. von Originalcompositionen veröffentlichte, zeugt von seinem angeborenen und durch den steten Umgang mit dem leicht Faßlichen geförderten Sinn für das Sangbare, Frische, Ungekünstelte, warm Empfundene, innig und sinnig Durchwehte, seine unwiderstehliche Wirkung mit den treffendsten Mitteln Suchende und Findende. In erster Linie sind hier seine zahlreichen Compositionen für Männerchor und Männerquartett zu nennen, darunter seine als „Tübinger Liedertafel“ veröffentlichten op. 15, 16 und 29 (1832–33. Tübingen, Laupp), seine „Lieder für fröhliche Gesellschaften von Wagner“ (erstes Heft 1825), seine „sechs vierstimmige Lieder für Wehrmänner“, „Turnlieder“ (dreistimmig), „Trauergesänge“ (aus seinem Nachlaß herausgegeben). Von seinen Liedern für eine Singstimme sind zu erwähnen: sechs Lieder von Justinus Kerner, vier plattdeutsche Lieder, drei Lieder aus der Frithjofssage op. 20, Hohenstaufenlieder op. 12 nach Texten von L. Bauer, J. Kerner, Pfizer, Rapp und Rückert (Stuttgart, Liesching). Sehr beliebt waren auch seine Bearbeitungen Beethoven’scher Instrumentalsätze zu Liedern mit unterlegten, zum Theil selbstgedichteten Texten (drei Hefte). Mit besonderer Liebe wendete er sich der Pflege des Gesangs durch die Jugend zu und veröffentlichte in diesem Sinne seine „sechs Hefte (à 12 Lieder) Kinderlieder für Schule und Haus“ (auch englisch herausgegeben), zwölf Kinderlieder [323] nach dem Anhang des Specter’schen Fabelbuches, zweistimmig, zwölf Kinderlieder für Schule und Haus von E. M. Arndt, Agn. Franz, F. Güll, Hölty, W. Müller, Chr. Schmid, Wiedenfeld, zwei- und dreistimmig. Hierher gehört noch sein hübsches Singspiel „Die kleine Lautenspielerin“ von Chr. Schmid, op. 17 (Tübingen, Laupp, wie überhaupt die meisten seiner Werke). Die meisten seiner Kinderlieder gehören zum eisernen Bestand aller ähnlichen Sammlungen. 1845 erschien die erste, 1853 die zweite Auflage seiner „kurzgefaßten Gesanglehre für Volksschulen und Singchöre“ (1864 eine dritte von Weeber besorgte), die sehr populär wurde. Dieselbe hat nur das im Volksgesang gebräuchliche Material im Auge mit Hintansetzung Alles dessen, was nicht in den Kreis dieses Unterrichts gehört. Im Zusammenhang damit erschienen 1846 auch fünfzehn Notenwandtabellen. Das Ganze ist, wie seine originelle Fassung und Anlage zeigt, durchaus aus eigener Praxis und Beobachtung herausgewachsen. Zunächst zum Schulgebrauch erschien auch sein op. 6, XII Canons zu drei Stimmen. – Auch ein theoretisches Lehrbuch verfaßte er, die 1851 in erster, 1859 in zweiter Auflage erschienene „Harmonie- und Compositionslehre“, das kurz und gemeinfaßlich dargestellte Ergebniß sorgfältiger Studien und vieljähriger Erfahrung, jetzt in der Methode zwar veraltet, aber doch noch lesenswerthe Abschnitte enthaltend über Melodie, melodisch-rhythmischen Bau, Periodenbau, den neueren Choral, die alten Kirchentonarten und ihre Choräle, sowie den alten rhythmischen Choral. Großen und nachhaltigen Erfolg hatte auch Silcher’s Thätigkeit auf dem Gebiet des Kirchengesangs. Auch hier strebte er größtmögliche Verbreitung eines auch künstlerischen Ansprüchen genügenden Gemeindegesangs an, wenn er auch seine Idee, die ganze Gemeinde zum Chor zu machen, später als einen Irrthum betrachten, und darnach seine Ziele weniger hoch stecken mußte. Seine bedeutendste Leistung ist hierin die mit Kocher und Frech 1824–26 unternommene Neubearbeitung vierstimmiger Choralgesänge, welche zu dem im amtlichen Auftrag verfaßten Choralbuch der evangelischen Kirche Württembergs auf 221 Melodien erweitert, 1828 eingeführt wurde, an Stelle des bisher gebräuchlichen von Knecht für den einstimmigen Gesang mit Orgelbegleitung berechneten. 1844 wurde dasselbe einer Revision durch die gleichen Männer unterzogen, in welcher Gestalt es noch heute besteht. Im Anschluß an das Choralbuch von 1844 bearbeitete S. ferner 62 Choräle zwei- und dreistimmig „für Schule, Kirche und Haus“, ferner schrieb er von 1818–43 34 Choralmelodien theils im Original, theils in Ueberarbeitung, wovon 7 Melodien in das Choralbuch aufgenommen sind. Der Gedanke eines Familienchoralbuchs, der S. viele Jahre beschäftigte, kam nicht mehr zur Ausführung. Ferner erlangte große Verbreitung: „Vierstimmige Gesänge auf Sonn- und Feiertage in zweierlei Satzarten, für gemischten Chor und für Männerchor bearbeitet“ (Werke von Luther, Vogler, Mozart, A. Weber, Silcher und Reichardt) op. 24; sodann „vierstimmige Hymnen und Figuralgesänge auf hohe Festtage und zur Abendmahlfeier“, op. 9 und 10 (1825 und 1827). Aus der Praxis, nämlich aus Vorträgen für die Theologen hervorgegangen, entstand endlich eine „Geschichte des evangelischen Kirchengesangs nach seinen Hauptmelodien, wie sie im württ. Choralbuch v. J. 1844 enthalten sind, nebst einer Erklärung der alten Kirchentonarten“, Silcher’s letztes unter vielen körperlichen Gebrechen vollendetes Werk, nach seinem Tod im Jahr 1862 von Ehmann herausgegeben, prägnant in der Fassung, verständlich und erschöpfend, besonders der Theil über die Kirchentonarten, das Ganze sehr wohl noch des Studiums werth.
S. rief bald nach seiner Ankunft in Tübingen einen protestantischen Kirchenchor ins Leben. 1829 gründete S. die akademische Liedertafel, eine wahre Pflanzstätte tüchtiger musikalischer Bestrebungen, aus der jährlich viele begeisterte Apostel einer wahren Kunstpflege ins Leben hinauszogen und im Sinne ihres Meisters [324] weiter arbeiteten. Selbst Mendelssohn’s Musik zu Antigone und Oedipus auf Kolonos kam zur Aufführung und regte S. zur Composition der Chöre des „Tod des Ajax“ an. 1839 gründete S. den Oratorienverein, mit welchem er ebenfalls viel Freude erlebte und Tüchtiges leistete. Damit hob er natürlich das Musikleben der Stadt auf eine bemerkenswerthe Höhe. Seiner Wirksamkeit und unermüdlichen Thätigkeit entsprach auch seine Beliebtheit und sein Ansehen. Ein überaus glückliches Familienleben – er war seit 1822 mit Luise Enslin aus Tübingen verheirathet, die ihm zwei Töchter und einen Sohn schenkte, letzterer z. Z. Pfarrer in Hofen O. A. Besigheim –, reger intimer Verkehr mit Männern wie Uhland, Kerner, Schwab, Lenau, Platen, Haug, Möricke, Geibel, Chr. Schmid, Frauen wie O. Wildermuth, Josephine Lang, Ehrungen mannigfacher und herzlicher Art, verschönten seine Tage. 1852 ernannte ihn die philosophische Facultät der Universität zum Ehrendoctor, die berühmtesten auswärtigen Vereine, Köln, Wien, Zürich, eidgenössischer und schwäbischer Sängerbund wählten ihn zum Ehrenmitglied. Leider zehrte ein schmerzhaftes Steinleiden an seiner Gesundheit und veranlaßte ihn, 1860 zu resigniren. Seine letzte öffentliche Thätigkeit war die Leitung einer musikalischen Aufführung zum 300. Todestag Melanchthon’s im April 1860. Sein König begleitete die Amtsenthebung mit der Verleihung des württembergischen Friedrichsordens. Nach einer Kur in Wildbad unterzog sich S. einer Operation, leider ohne Erfolg. Er starb friedlich, wie er gelebt in der vierten Morgenstunde des 26. August 1860. Am 7. Mai 1874 wurde ihm von der akademischen Liedertafel im Vereine mit dem schwäbischen Sängerbund im Garten der Universität Tübingen ein Denkmal gesetzt. Sein Geburtshaus in seinem Heimatsdorfe ist mit seinem Medaillonbildniß geschmückt, das schönste Denkmal aber hat er sich selbst in seinen Liedern gesetzt, die mit dem künstlerischen Fühlen der Nation wohl für alle Zeiten untrennbar verbunden sein werden.
Biographische Arbeiten über S. sind: Nekrolog von Palmer in der Beilage (schwäbische Chronik) des Schwäbischen Merkur vom 7. October 1860. – H. A. Köstlin, Carl M. v. Weber. Fr. Silcher. Stuttgart 1877. – J. J. Bußinger, Fr. Silcher, Beigabe zum Jahresbericht der Realschule in Basel vom Jahr 1861. – Pfarrer Weber’s Monographie, s. 67. Neujahrsstück der allgemeinen Musikgesellschaft in Zürich 1879. Ferner sind aus Anlaß des 100. Geburtstages Silcher’s Erinnerungsblätter und Charakteristiken in zahlreichen Blättern erschienen. Die Verdienste Silcher’s für den deutschen Männergesang würdigt O. Elben in „Der volksthümliche deutsche Männergesang“, 2. Auflage. Tübingen 1887. S. 417, 425 ff.